Der Dusel-Sieg im zweiten Spiel der WM-Qualifikation in Österreich offenbart: Die deutsche Nationalmannschaft hat sich vom Titelfavoriten zu einer Großbaustelle zurückentwickelt.
Unangenehme Situationen hatte der Bundestrainer genügend zu überstehen beim glücklichen 2:1-Sieg in der WM-Qualifikation in Österreich. Individuelle Fehler im Akkord, mangelnde taktische Disziplin, erschreckende spielerische Defizite. Doch in der Pressekonferenz nach der Partie im Bauch des Ernst-Happel-Stadion musste Joachim Löw die wohl ultimative Schmach hinnehmen: den Verlust des Respekts vor der deutschen Nationalmannschaft. Während sich der 52-Jährige dem Podium näherte, fragten Journalisten Österreichs Trainer Marcel Koller, ob die Niederlage nicht doppelt ärgerlich sei: Schließlich könne diese deutsche Elf auch in Irland und gegen Schweden Punkte verlieren. Als wäre das DFB-Team nicht mehr Gruppenfavorit, sondern Fallobst auf dem Weg nach Brasilien.
.„Wir haben heute Glück gehabt in einigen Phasen“, gab Löw zu – und trotzdem war das die Untertreibung des Abends. Die DFB-Elf präsentierte sich nur wenige Wochen nach dem Erreichen des EM-Halbfinales als eine riesengroße Baustelle. Vom Titelanwärter zur Großbaustelle im Schnelldurchlauf: Lange nicht mehr war ein deutscher Sieg so unverdient wie dieser Erfolg im Prestigeduell in Wien. Dabei war es weniger die Stärke von Österreichs Neun-Mann Bundesliga-Auswahl, vor der Löw deutlich gewarnt hatte, als vielmehr die unfassbaren Fehler des deutschen Teams, die fast zur Sensation geführt hätten.
Das fing schon nach vier Minuten an, als Innenverteidiger Mats Hummels die Gastgeber mit einem katastrophalen Fehlpass quasi zur Führung einlud, aber sein Abwehrkollege Holger Badstuber gegen den Stuttgarter Martin Harnik gerade noch klären konnte. Dieser Weckruf verhallte im DFB-Team ungehört. Ohne Gegenwehr überließ der 2. der FIFA-Weltrangliste den 47 Rängen schlechter platzierten Österreichern die Initiative. Beinahe mutlos ergab sich das DFB-Team in sein Schicksal, und es war ein kleines Fußballwunder, dass Löws Team und nicht die Rot-Weiß-Roten mit einem Erfolgserlebnis in die Pause gingen.
„Das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen uns und der Weltklasse“, sagte ÖFB-Coach Koller und ärgerte sich maßlos über die mangelhafte Chancenauswertung seines Teams sowie die gnadenlose Effizienz des Gegners. 6:2 stand es zur Halbzeit nach Möglichkeiten für den Außenseiter, doch dank Marco Reus‘ Solo stand es zur Pause 1:0 für den Favoriten. Verkehrte Welt in Wien.
Kurz nach dem Wechsel setzte die deutsche Mannschaft durch Özils souveränen Elfmeter sogar noch einen drauf. Doch nicht einmal das bedeutete die Vorentscheidung. Mal abgesehen davon, dass der Strafstoß umstritten war, weil zuvor möglicherweise gleich zwei Deutsche im Abseits standen, bot die DFB-Elf genügend Gelegenheiten, um das Spiel wieder zu öffnen. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen bekam das deutsche Mittelfeld die Partie zu keiner Zeit in den Griff. Sami Khedira und Toni Kroos waren schlichtweg überfordert, den Weg aufs eigene Tor zuzustellen. Mesut Özil wusste außer bei seinem dritten Tor in der WM-Qualifikation überhaupt nicht zu gefallen. Das Spiel über die Flügel war so gut wie gar nicht vorhanden.
Stürmer Miroslav Klose stand in der Spitze auf verlorenem Posten und wich nach links und nach rechts aus, weil er verzweifelt Bindung zum Spiel suchte. „Wir waren verunsichert“, gestand der Bundestrainer und kritisierte die eigene Offensive. „Wir mussten viele lange Bälle spielen.“ Auch das angekündigte Pressing fand so gut wie gar nicht statt. Löw versuchte das später zu erklären, aber die Logik des obersten Übungsleiters erschloss sich nicht unmittelbar. „Wir wollten nur phasenweise pressen, um mehr Raum für das eigene Spiel zu haben.“
Passend dazu präsentierte sich die deutsche Abwehr in einem erschreckenden Zustand. Vor allem die beiden Außenverteidiger erwischten einen rabenschwarzen Tag. Marko Arnautovic bereitete Marcel Schmelzer derart viele Kopfschmerzen, dass der Dortmunder mit einer Familienpackung Aspirin vermutlich nicht auskam. Immer wieder entwischte Österreichs tragischer Held seinem Gegenüber, der seine erste Bewährungschance als Stammspieler schlichtweg verdaddelte. Die linke Seite bleibt eins der Rätsel im deutschen Team. Selbst der Bundestrainer war ratlos, ihm bleibt die vage Aussicht, dass Schmelzer mit dem BVB in der Champions League einen Crashkurs in Sachen internationaler Klasse macht. „Wir haben links einfach nicht viele Alternative. Wir müssen hoffen, dass Marcel sich weiterentwickelt.“
Aber auch Routinier Philipp Lahm auf der gegenüberliegenden Seite offenbarte erstaunliche Defizite. Der Kapitän zeigte ungewohnte Stellungsfehler und konnte sich nach einen schlimmen Rückpass sogar bei seinem Münchner Teamkollegen Manuel Neuer bedanken, dass die Österreicher das Geschenk nicht zum verdienten Ausgleich nutzten. Den hatte in der 87. Minute dann auch noch Arnautovic auf dem Fuß, doch Austrias allerbeste Chance vergab der Bremer kläglich. „Ich will mich beim ganzen Land entschuldigen“, sagte das Enfant Terrible später.
Diese Demut scheint inzwischen auch beim deutschen Team angebracht. Denn trotz des Traumstarts in der Qualifikation mit sechs Punkten aus zwei Spielen hat sich die DFB-Elf ganz offensichtlich trotz neuer, vielversprechender Namen nicht weiter-, sonder zurückentwickelt. Es hakt an allen Ecken und Enden. Jedenfalls wirkt die jüngste Forderung von Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff angesichts der letzten Leistungen völlig deplaziert: „Nur schön spielen reicht nicht mehr.“