Bei der Europameisterschaft will die deutsche Nationalmannschaft den Titelverteidiger Spanien vom Thron schubsen, und im Europapokal stehen für die Klubs aus der Bundesliga große Duelle mit der Fußballgroßmacht Nummer eins an. Hannover 96 kreuzt in der Europa League mit Atletico Madrid die Klingen, Schalke 04 trifft auf Athletic Bilbao. In der Champions League könnte es zudem im Halbfinale zum Showdown des FC Bayern mit Real Madrid kommen.
Spanien-Experte Christoph Metzelder, drei Jahre als Verteidiger in Diensten der Königlichen aus Madrid, spricht im t-online.de Interview über die Chancen seiner Schalker gegen Bilbao, die Aufholjagd in der Fünfjahreswertung, Deutschlands Goldene Generation und einen kleinen Schwindel bei seinem Einstand in der spanischen Hauptstadt.
Herr Metzelder: Jetzt gehen für den deutschen Fußball die spanischen Wochen los: Ihr Klub Schalke 04 trifft im Viertelfinale der Europa League auf Athletic Bilbao. Waren Sie zufrieden mit der Auslosung?
Christoph Metzelder: Ja, das habe ich mir gewünscht. Bilbao hat ein tolles Stadion und setzt nur auf baskische Spieler, das finde ich bewundernswert. Sie spielen vor allem zuhause sehr offensiv und mit viel Leidenschaft. Es wird schwer, aber wir haben eine Chance.
In der Champions League könnte ihr ehemaliger Klub Real Madrid im Halbfinale auf den FC Bayern treffen. Wen sehen Sie da vorn?
Da zittert eher Madrid. Die Münchner sind für Real die „bestia negra“, die schwarze Bestie. Gegen den FC Bayern spielen sie nicht so gerne.
Madrid winkt im Idealfall ein Finale gegen den ewigen Rivalen FC Barcelona. Der Clasico als Endspiel in der Königsklasse – ein absolute Knaller, oder?
Absolut. Die beiden besten Klubmannschaften der Welt, mit völlig unterschiedlichen Philosophien, das wär‘s. In einem einzigen Finalspiel würde ich sogar Real als Favoriten sehen.
DFL-Präsident Reinhard Rauball hat vor einiger Zeit forsch angekündigt, in der Fünfjahreswertung habe die Jagd auf Spanien begonnen hat. Zu vermessen?
Der Mittelbau der Bundesliga ist eigentlich stärker, da hat er recht. Auch wenn Spanien dieses Jahr gleich drei Teams ins Viertelfinale der Europa League gebracht hat: Valencia, Bilbao und Atletico Madrid. Mittelfristig gelingt die Aufholjagd aber nur, wenn sich in der Champions League neben dem FC Bayern ein zweites deutsches Team permanent etabliert. Denn Real und Barcelona werden immer viele Punkte sammeln.
Auch auf der Ebene der Nationalmannschaft ist Spanien für Deutschland der Maßstab. Hat die DFB-Elf mittlerweile zum Branchenführer aufgeschlossen?
Vor dem EM-Finale 2008 hatten die Spanier unheimlichen Respekt, weil wir die Turniermannschaft schlechthin waren: voller Kampfgeist, erst geschlagen, wenn abgepfiffen ist. Diese Tugenden besitzen wir immer noch. Und inzwischen haben wir eine Mannschaft, die zudem richtig gut kombinieren kann. Von daher werden die anderen Nationen noch mehr auf uns schauen. Wenn wir die Qualitäten der einzelnen Spieler vergleichen, mögen die Spanier vorne sein. Aber in einem Turnier muss das nicht viel heißen. Die Lücke zu den Spaniern haben wir zumindest wieder geschlossen.
Dann lassen Sie uns mal vergleichen: Die beiden Torhüter kennen Sie aus eigener Anschauung bestens. Wer hat die Nase vorn? Iker Casillas oder Manuel Neuer?
Iker hat den Vorteil, dass er bereit seit einem Jahrzehnt bei einem Topklub spielt, ständig in der Champions League vertreten ist und den Druck kennt. Zudem hat er bewiesen, dass er als Kapitän eine Mannschaft zu Titeln führen kann. Das konnte Manu bislang nicht, schon weil er deutlich jünger ist. Aber er hat das größere Potenzial. Für mich ist er der kompletteste Torwart, den es gibt. Mittelfristig: Vorteil Deutschland.
Die DFB-Abwehr gilt trotz viel Talent weiter als Problemzone. Die spanische steht dagegen meist sicher, ist höchstens auf einigen Positionen etwas zu alt.
Das Komische ist ja: Nicht jeder herausragende Abwehrspieler in der Bundesliga ist automatisch auch ein herausragender Nationalverteidiger…
…wie zum Beispiel Mats Hummels.
Richtig. Ich halte ihn für den besten deutschen Innenverteidiger, er hat eine tolle Veranlagung und riesiges Potenzial. Im DFB-Dress hat er das allerdings noch nicht komplett abrufen können. Aber das wird bestimmt noch kommen.
Also ein Punkt für Spanien?
Insgesamt sehe ich sie in der Defensive leicht im Vorteil. Auf der Position rechts Außen ist mein früherer Teamkollege Sergio Ramos eine Bank: ein kompletter Spieler mit einer überragenden Physis. Außerdem kann er auch innen spielen, dass hat er bei Real eindrucksvoll bewiesen. Seine einzige Schwäche ist, dass er manchmal denkt, er sei ein Spielmacher (lacht). Dann schleicht sich ein wenig Überheblichkeit in sein Spiel.
Wie lange kann sich Routinier Carles Puyol noch halten?
Ihn sollte man nie unterschätzen. Sein Wille, seine Kampfkraft sind enorm. Er kann sich in Aufgaben verbeißen. Und neben ihm spielt in Gerard Piqué der zurzeit wohl beste Innenverteidiger der Welt, mit herausragender Spieleröffnung. Danach allerdings beginnen die Probleme. Von diesen Dreien sollte sich keiner verletzen, denn die zweite Reihe ist nicht gleichwertig besetzt. Und die linke Außenbahn ist schon länger wackelig. Joan Capdevilla war Stammspieler bei der WM, aber er ist mit 34 Jahren nicht mehr der Jüngste. Zuletzt hat Trainer Vicente del Bosque auf dieser Position viel probiert, ich weiß gar nicht genau, wer da gerade die Nase vorn hat. Da sehe ich eine Schwachstelle.
Die beiden Mittelfeldreihen gehören vermutlich zu den besten weltweit.
Absolut. Beide haben eine große Qualität. Spanien hat den Vorteil, dass es im Mittelfeld fast komplett auf den Barcelona-Block bauen kann. Fabregas, Iniesta, Xavi, Busquets: Deren Ballzirkulation und Passsicherheit ist einmalig. Nach dem verlorenen WM-Halbfinale 2010 hat Miroslav Klose gesagt: Wir mussten einen solchen Aufwand betreiben, um an den Ball zu kommen, dass wir zu kaputt waren für unsere eigenen Angriffe.
Hat Deutschland heute das Format, um dem spanischen Tiki-Taka Paroli zu bieten?
Das Entscheidende ist der Ballbesitz. Wenn die deutsche Mannschaft das hinbekommt, ohne sich müde zu rennen, kann sie Spanien weh tun. Im EM-Finale 2008 ist uns das in der ersten Viertelstunde noch gelungen. Casillas hat mir mal erzählt, dass die Spanier da durchaus Sorgen hatten. Aber dann haben sie das Mittelfeld in den Griff bekommen und wir hatten keine Chance mehr. Dann läuft jede Mannschaft dieser Welt hinterher. Das kostet nicht nur viel Kraft, sondern ist außerdem noch unheimlich frustrierend.
Haben die Spanier zurzeit ein Sturmproblem?
Das ist wohl so. Eigentlich ist diese Position bei den Spaniern ja doppelt top besetzt. Aber weil sich David Villa ein Bein gebrochen hat und Fernando Torres völlig außer Form ist, haben sie dort zu kämpfen. Zwar stehen noch Leute wie Fernando Llorente bereit, aber der ist ein ganz anderer Spielertyp. Ob er zu den Mittelfeldzauberern aus Barcelona passt, da habe ich so meine Zweifel. Als Stammspieler sehe ich ihn nicht. Ich glaube, alle hoffen inständig, dass Villa noch rechtzeitig fit wird.
Vorteil Deutschland?
Könnte man sagen. Miroslav Klose ist eine Bank, gerade bei Turnieren. Bei Lazio Rom ist er noch mal durchgestartet, hat Spielpraxis gesammelt und viel Selbstvertrauen. Auch Mario Gomez müsste aufgrund seiner Leistungen beim FC Bayern eigentlich immer spielen. Da haben wir viel weniger Sorgen als Spanien.
Verpasst der Weltmeister gerade etwas den Umbruch? Während beim DFB-Team der 23-Jährige Mesut Özil von einem 19-Jährigen wie Mario Götze unter Druck gesetzt wird, haben die ersten Helden der Furia Roja ein kritisches Alter erreicht.
Fußball unterliegt Zyklen, auch wenn man das bei den großen Fußballnationen aufgrund ihres enormen Talentpools oft weniger wahrnimmt. Aber es gibt immer wieder Goldene Generationen, wie bei den Franzosen Ende der Neunziger oder zurzeit bei den Spaniern um Casillas, Xavi und Iniesta. Ich glaube, dass die Deutschen die Nächsten sind mit einer herausragenden Generation. Der DFB wird in den kommenden Turnieren sehr gute Teams stellen. Noch würde ich bei zehn Duellen Spanien vorne sehen, aber bei einem Turnier gehört auch Glück dazu, Dramaturgie und Biss. Und ich bin mir nicht sicher, ob ein amtierender Europa- und Weltmeister den auch zum dritten Mal in Folge entwickelt.
Schalkes Raul ist einer der besten spanischen Fußballer aller Zeiten. Die EM- und WM-Triumphe fanden allerdings ohne ihn statt, weil der damalige Trainer Luis Aragones ihn aussortierte. Hadert er mit seinem Schicksal?
Zuerst war ihm womöglich gar nicht mal bewusst, was er da verpasst. Die Spanier haben ja selbst nie so recht daran geglaubt, dass sie ihr traditionelles Turnier-Trauma mal beenden könnten. Gut vorstellbar, dass es für Raul schmerzvoll ist. Andererseits hat er so viel erreicht in seiner Karriere, dass er nicht im Gram zurückblicken muss.
An ein spätes Comeback im Nationaldress…
…glaubt Raul nicht mehr. Er hat seinen Urlaub schon geplant (lacht).
Wie schätzen Sie den Weg Ihrer deutschen Nachfolger bei Real Madrid ein: Özil und Sami Khedira?
Beide haben eine enorme Entwicklung genommen. Sami vielleicht sogar noch mehr. Er spielt schließlich auf einer Position, die nicht so im Fokus steht. Gerade bei Real werden die Arbeiter im Team eher belächelt. Außerdem ist im defensiven Mittelfeld die Konkurrenz enorm. Beide haben den Vorteil, dass sie Wunschspieler von Trainer Jose Mourinho waren. Das ist in einem Verein wie Madrid sehr wichtig.
Was müssen wir von der extremen spanischen Sport-Presse halten? Özil wird in einer Woche zum Fußballgott erklärt und in der nächsten zum Versager gestempelt.
Ich sehe das Problem eher auf deutscher Seite. Meldungen werden hin und her übersetzt, ohne dass Journalisten dauerhaft vor Ort sind und das persönliche Gespräch suchen. Das war bei mir auch so und ist schade. Die spanischen Journalisten sind da ganz anders. Die verteidigen ihre Sportler, die im Ausland ihr Geld verdienen, mit einem unglaublichen Patriotismus. Da können wir uns eine Scheibe abschneiden.
Welche Rolle spielt die Sprachfähigkeit der beiden? Sie selbst hatten bei ihrer Vorstellung in Madrid mit einer Antrittsrede in fehlerfreiem Spanisch geglänzt…
…die ich allerdings weitgehend auswendig gelernt hatte (lacht). Ganz im Ernst: Für den Fußball und das Leben innerhalb einer Mannschaft ist das nicht wichtig. Das sollte man nicht überbewerten. Mit Händen und Füßen, Englisch und ein paar Brocken Spanisch kommt man klar. Ich habe mich auch erst einmal auf den Trainingsplatz gestellt und die Aktionen der anderen einfach nachgemacht. Es gibt viele internationale Stars, die ohne Sprachkenntnisse in ihren Klubs überzeugt haben.
Aber ist es nicht doch ein Unterschied? Mit Ihrer Zeit in Madrid verbindet man eher Positives, obwohl Sie oft verletzt waren und wenig spielten. Heute sieht man Sie nach Spielschluss als Dolmetscher für Raul. Von anderen Spanien-Legionären wie Timo Hildebrand oder David Odonkor würde man das gar nicht erst erwarten.
Das sind doch nur Randnotizen. Vielleicht erinnern sich die Leute in Madrid in zehn oder zwanzig Jahren besser an mich als Person, weil ich gewillt war, zu hundert Prozent ins dortige Leben einzutauchen. Aber auf die sportliche Leistung hat das keinerlei Einfluss.
Können Özil und Khedira eine prägende Rolle bei Real spielen?
Wenn Mourinho bleibt, auf jeden Fall. Ganz besonders Özil natürlich, aufgrund seiner zentralen Rolle im Team. Aber solche Sachen hängen gerade in Madrid vom Trainer ab. Muss er gehen, werden automatisch auch viele Spieler ausgetauscht.
Das Interview führte Patrick Brandenburg, 27.03.2012