Dortmunds Champions-League-Auftakt bei Tottenham Hotspur wird zum ersten echten Gradmesser: Wie weit ist der BVB mit seinem Trainer wirklich, ist der neue Spielstil schon reif für Europa?
(Dieser Artikel lief am 13. September bei zdfsport.de)
Als ungeschlagener Bundesliga-Spitzenreiter startet Borussia Dortmund in die Gruppenphase der Königsklasse. Mit einer Tordifferenz von plus fünf, ohne Gegentor – besser geht’s kaum. Doch beim BVB lässt sich niemand vom vermeintlich perfekten Saisonstart blenden, schon gar nicht der neue Trainer Peter Bosz.
Der Holländer weiß genau, dass sich im ersten Vorrundenspiel der Gruppe H bei Tottenham Hotspur zeigt, welche Fortschritte sein Team wirklich gemacht hat.
Gute Ansätze in der Liga
Denn die Generalprobe in Freiburg war ernüchternd, die Selbstkritik schonungslos. „Das war zu wenig“, schimpfte Bosz, auch mit Blick auf die Partie in London. Die Medien gingen noch härter ins Gericht mit den ambitionierten Dortmundern, die zum fünften Mal in sechs Jahren die K.-o.-Runde in der Königsklasse erreichen wollen. Die „WAZ“ fühlte sich durch die Ideenlosigkeit sogar an das Ende der Klopp-Ära erinnert, als die Borussia zeitweise in die Abstiegsränge abrutschte.
Andere Medien verglichen die müde Nullnummer mit den Pleiten im letzten Tuchel-Jahr, die in schlechter Regelmäßigkeit den sportlich positiven Gesamteindruck störten. Parallelen mag es geben, aber genau diese Probleme hatte der BVB für den erneuten Umbruch eingeplant. Vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, dass der Saisonstart nicht komplett glatt verläuft. Das schärft die Sinne. Die überzeugenden Siege in Wolfsburg und über Hertha BSC, aber auch der unglücklich verlorene Supercup gegen den FC Bayern haben angedeutet, wo der BVB spielerisch hinwill.
Spurs-Probleme als Chance
Ohnehin taugt die Partie im Breisgau kaum als Blaupause, 78 Prozent Ballbesitz wird der BVB in der Königsklasse vermutlich nicht einmal gegen Außenseiter APOEL Nikosia kopieren. Gegen Auftaktgegner Tottenham schon gar nicht. Die Spurs werden voll auf Sieg gehen, zumal sie nach dem verpatzten Königsklassen-Auftritt der vergangenen Saison viel gutzumachen haben. Dabei ist der englische Vizemeister mit seinem Spielsystem, das sehr stark dem der Borussia ähnelt, im selbsterwählten Exil in Wembley bislang alles andere als glücklich.
Die acht Prozent größere Rasenfläche im Nationalstadion macht es den Lilywhites schwerer, ihre Gegner so einzuschnüren, wie sie es in der engen Festung White Hart Lane gewohnt waren, wo gerade ein neues Stadion entsteht. Auch die Sperre von Spielgestalter Dele Alli ist eine Hypothek. Den Gästen aus Westfalen bietet das die Chance, den Stand ihres eigenen Gegenpressings zu prüfen und zu sehen, wie gut ihre Konter schon sitzen.
Gedankenschnelle Raumdeuter gesucht
Gleichzeitig wird das Spiel für die BVB-Verteidigung zur Bewährungsprobe. Wie klein kann der extrem hoch stehende BVB die Abstände zwischen vorderster Front und letzter Linie halten? Wie lässt sich Englands Toptorjäger Harry Kane eindämmen oder Vorlagenkönig Christian Eriksen? Im mutig attackierenden 4-2-3-1-System von Trainer Bosz ergeben sich zwangsläufig Lücken, eine große Gefahr gegen clevere Gegner wie die Spurs. Dass Dortmund in Liga und Pokal noch ohne Gegentor dasteht, ist schließlich auch etwas Glück. „Wenn wir etwas zu spät kommen, wird es schwer“, gestand Abwehrchef Sokratis jüngst dem „kicker“.
Vor allem das defensive Mittelfeld als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff muss 90 Minuten lang konzentriert zur Sache gehen. Raumdeuter Nuri Sahin etwa, der ein tolles Liga-Comeback feierte, sollte einen Zahn zulegen, will er sein Geschwindigkeits-Defizit auch international mit Antizipation ausgleichen. Spannend ist auch die Frage, ob Julian Weigl schon in Wembley mit einem Kurzeinsatz ins Team zurückkehrt und ob seine konstant geringe Fehlpassquote für das anfällige Bosz-System der erhoffte Quantensprung ist.
Weit von der Idealelf entfernt
Außerdem schleppt der BVB weiter Personalsorgen mit. Zwar hat es Verteidiger Marc Bartra am Wochenende wohl nicht ganz so schlimm erwischt wie befürchtet, aber die Reise nach London macht er nicht mit. Kapitän Marcel Schmelzer verabschiedet sich sogar auf längere Zeit zurück ins Lazarett, so dass es auf der linken Abwehrseite wieder schwieriger wird. Innenverteidiger Dan-Axel Zagadou hatte sich auf der fremden Position als Schmelzer-Ersatz zwar zuletzt gefangen, aber ob der 18-Jährige bereit ist für die Champions League, muss er erst noch beweisen.
Jeremy Toljan hat überhaupt noch nicht unter Wettbewerbsbedingungen mit den neuen Kollegen gekickt, eine BVB-Feuertaufe gleich in der Königsklasse wäre ein kleines Risiko. Und schließlich fehlt die Kreativität der verletzten Marco Reus, Raphael Guerreiro oder André Schürrle noch weit über den Champions-League-Auftakt hinaus, auch Sebastian Rode und Erik Durm sind vorerst keine Alternativen.