Der abstiegsbedrohte Vizemeister wollte eigentlich mit einem guten Gefühl aus dem Trainingslager heimkehren. Doch nach neun Tagen in Spanien scheint die Zahl der Baustellen nicht kleiner geworden zu sein.
Sebastian Kehl hatte schon wieder genug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht bahnte er sich den Weg aus dem Stadion Jose Rico Perez in Alicante in Richtung Mannschaftsbus. Den linken Arm in einer Schlinge, mit dem rechten die lädierte Schulter haltend.
“Die war kurz raus, und dann wieder drin. Scheint etwas mehr zu sein”, sagte der frühere Kapitän nach dem 1:0-Sieg im Testspiel gegen Steaua Bukarest zerknirscht. Das neue Jahr beginnt für Borussia Dortmund so schlimm, wie das alte aufgehört hat.
“Diese Wochen sind Gold wert”
Zur Konstanz des Schreckens kommt beim BVB die Konstanz des Rätselhaften. Denn ebenso wenig wie sich in der Hinrunde der fürchterliche Absturz der Westfalen auf Tabellenplatz 17 allein mit Verletzungspech erklären ließ, kann man nach neun Tagen Wintertrainingslager den Puls des gerupften Vizemeisters fühlen.
Der Trainer ist bemüht, den Start als Aufbruchstimmung zu verkaufen. Dem WDR sagte er Sätze wie: “Diese Wochen sind Gold wert. Die Mannschaft ist voller Lust und Vorfreude.” Auch sieht er sein Team “einen bedeutenden Schritt weiter” nach der Grundlagenarbeit an der Costa Calida.
Nur Kampl ist der Spaß anzusehen
Andererseits hat das Team mit zwei knappen Siegen in den Testspielen zwar defensiv an Stabilität gewonnen, aber offensiv nur ansatzweise Selbstvertrauen tanken können. Selbst Berufsoptimist Jürgen Klopp zieht in La Manga nur für Gruppen-Selfies mit den Fans kurz pflichtbewusst die Mundwinkel hoch.
Ansonsten versprüht er den Charme eines Campingplatzwarts, dem Halbstarke den Feierabend versaut haben. Bei den Spielern ist einzig dem frechen Neuzugang Kevin Kampl echte Freude auf die zweite Saisonhälfte anzusehen.
Blick hinter die Kulissen kaum möglich
Ist ja klar, dass beim BVB nach der schwächsten Hinserie seit 43 Jahren keiner öffentlich den Clown gibt. Ob die Borussia aber nun besonders konzentriert zu Werke gegangen ist, oder ob dem Klub weiter die jüngsten Schockmomente aus Frankfurt, Berlin oder Bremen nachhängen, lässt sich kaum feststellen.
Der Blick hinter die Kulissen ist verstellt. Der sonst so kommunikative Klopp hat die Medienarbeit fast auf Null zurückgefahren und stand nur nach den Tests gegen Sion und Bukarest kurz zur allgemeinen Verfügung. Selbst der Zugang zu Spielern war beschränkt. Die westfälische Wagenburg will nicht an das Hinrunden-Desaster erinnert werden. 2014 ist abgehakt, der Blick geht nach vorne.
Angeschlagene Spieler mit durchgeschleppt
Für Borussia Dortmund war es vermutlich das wichtigste Wintertrainingslager der jüngeren Geschichte. Wie ein angeschlagener Boxer, der auf den Gong wartet – so sehnlichst hatten alle Beteiligten das Ende der ersten Saisonhälfte herbei gesehnt, um aus der “Negativspirale”, so Sportdirektor Michael Zorc, auszubrechen.
Die Möglichkeit, sich endlich sammeln zu können und nicht unter dem Druck der englischen Wochen Ergebnisse produzieren zu müssen, sollte dem BVB gut tun. Mental, um mit ein wenig Abstand nach den Gründen für den Absturz zu forschen und daraus Schlüsse zu ziehen. Aber auch körperlich, schließlich schleppt das Team seit Saisonbeginn angeschlagene Spieler mit durch.
Das nächste Quartett angeschlagen
Personell schien zunächst Besserung in Sicht, doch schon zum Start der Vorbereitung gab es den ersten Rückschlag, als sich Mittelfeld-Ass Sven Bender im ersten Mannschaftstraining des Jahres 2015 am Knie verletzte. Vor dem Testspiel gegen den FC Sion zog sich Außenverteidiger Erik Durm einen Muskelfaserriss zu. Beide verpassen die komplette Vorbereitung, vom Liga-Start ganz zu schweigen.
Nun kommt der mögliche Ausfall des früheren Kapitäns Kehl dazu, falls er sich die Schulter ausgekugelt haben sollte – der gebeutelte BVB wartet gebannt auf die Diagnose. Kevin Großkreutz dagegen hat beim Spiel gegen Steaua wohl noch Glück im Unglück gehabt, er fällt nach Klubangaben mit einem Außenbandanriss nur für eine Woche aus.
Ramos und Mchitarjan brauchen noch Zeit
Die Probleme sind auch so schon gravierend genug. Adrian Ramos, dem seit Wochen diffus “muskuläre Probleme” attestiert werden, absolvierte in La Manga fast ausschließlich Einzeltraining. “Individuelle Trainingssteuerung” heißt das im BVB-Jargon, und galt auch für Henrich Mchitarjan, der nach seinem Muskelbündelriss lediglich Runde um Runde um den Platz drehte.
Verteidiger Sokratis musste nach seinem Wadenbeinbruch mehrfach beim Teamtraining aussetzen. Marco Reus macht nach seinem Außenbandriss zwar Fortschritte und kam gegen Steaua erstmals seit zwei Monaten zum Startelfeinsatz. Er konnte aber nicht alle Einheiten bis zum Ende ausführen. Außerdem ist der Kader vorerst um Pierre-Emerick Aubameyang reduziert, der beim Afrika-Cup eingreift. Shinji Kagawa und Mitch Langerak sind für Japan und Australien beim Asien-Cup im Einsatz.
Steckt doch eine Faser Lewandowski in Immobile?
Trotzdem bilanzierte Sportdirektor Zorc zufrieden: “Wir können jetzt wieder sehr intensiv und deutlich höhere Umfänge trainieren und Abläufe einstudieren, damit sich in einer größeren Gruppe auch wieder Automatismen bilden.” Bei der in der Tat konzentriert wirkenden Arbeit, die oft von ausführlichen Erläuterungen des Trainers eingerahmt wurde, ergab sich auch Gelegenheit für Detailarbeit. Selbst was Grundlegendes wie Torschüsse angeht.
Angesichts der katastrophalen Chancenverwertung der Hinrunde naheliegend. Ebenso, Stürmer Ciro Immobile die Ballannahme mit dem Rücken zum Tor üben zu lassen, auch wenn Dolmetscher Massimo Mariotti als Aushilfsgegner nur mit viel Fantasie einen Jerome-Boateng-Klon abgibt. In Dortmund haben sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, im Italiener Immobile ein paar Fasern Robert Lewandowskis zu entdecken.
In zwei Wochen bei Bayer zählt’s
Ob das alles reicht, um im Abstiegskampf zu bestehen? “Der Trainer hat bestimmt einen Plan”, sagte Mittelfeldspieler Jakub Blaszczykowski einmal und versprühte damit nur halbherzig Zuversicht. Auch die Aufarbeitung der Krise bleibt rätselhaft. “Wir haben nicht viele Fehler gemacht”, verkündete Klopp zwischenzeitlich – angesichts des vorletzten Tabellenplatzes kann man sich über diese Aussage nur wundern.
Immerhin bleiben den Dortmundern weitere zwei Wochen, um die in La Manga geschaffene Grundlage bis zum Rückrundenstart bei Bayer Leverkusen zu verstetigen und auszubauen.