Der Bundestrainer erklärt das unorthodoxe WM-Experiment mit vier Innenverteidigern für beendet und sucht mit Blick auf die EM 2016 nach Alternativen.
Für die deutsche Nationalmannschaft ist der September die Zeit des Übergangs und Umbruchs. Wettertechnisch und auch sportlich. Gegen Argentinien „wollen wir noch mal das Sommergefühl erzeugen, das WM-Gefühl“, sagt Bundestrainer Joachim Löw vor der Finalrevanche gegen Argentinien in Düsseldorf, das klimatisch gesehen ja eher provinziell ist als weltmeisterlich. Doch weil nur vier Tage später der Ernstfall der EM-Qualifikation vor der Tür steht, rutscht auch der gedankliche Abschluss mit dem Titelgewinn 2014, der gegen die Gauchos letztmalig zelebriert werden soll, schon unter die zukunftsträchtige Prämisse, „auch die neuen Ziele weltmeisterlich anzugehen“. Drei Routiniers haben sich beim Titelträger verabschiedet, und dem eigens für das Turnier in Brasilien entworfenen Masterplan für die jahrelange Dauerbaustelle Abwehr gibt Löw selbst den Laufpass.
Vom Glück begünstigte Lösung auf Zeit
„Offensive Außenverteidiger werden nun wohl wieder wichtiger“, vermutet der Bundestrainer. Er beerdigt damit das maßgeschneiderte Projekt, mit vier gelernten Innenverteidigern besonders sicher zu stehen in der Hitze und Schwüle Brasiliens, wo Löw und sein Cheftaktiker Urs Siegenthaler nicht mit laufintensivem Spiel über die Flügel rechneten. Obwohl beide mit dieser Einschätzung falsch lagen, war die DFB-Elf mit ihrer teutonischen Beton-Abwehr als Grundsicherung erfolgreich. Doch Löw ist klug genug zu erkennen, dass dies wohl nur eine Turnierlösung war, die zudem etwas Glück benötigte und später auch von der erzwungenen Rückkehr des Spezialisten Philipp Lahm auf die Seite begünstigt war.
Dank der verwässerten Qualifikation für die Europameisterschaft 2016 in Frankreich, die auch noch dem dritten der Gruppe Hoffnung auf die Teilnahme am 24er-Turnier macht, hat der Bundestrainer nun zwei Jahre Zeit für Experimente. Gesucht werden: ein rechter und ein linker Außenverteidiger. Benedikt Höwedes wird gegen Argentinien letztmals auf der Seite aushelfen – auf der rechten allerdings nach Lahms Rücktritt. Doch für den Schalker WM-Helden hat Löw schon andere Aufgaben im Blick: „Vermutlich wird Benedikt bald wieder in die Abwehrmitte zurückkehren.“ Dort soll er dann den Stamm bilden, mit den Platzhirschen Jerome Boateng und Mats Hummels, vermutlich noch erweitert um die WM-Fahrer Shkodran Mustafi und Matthias Ginter oder den möglichen Rückkehrer Holger Badstuber. Abwehrhüne Per Mertesacker hatte ja wie Lahm und Sturm-Oldie Miroslav Klose seinen Abschied verkündet.
Zwei Dortmunder und ein Stuttgarter auf dem Zettel
Nun ist vielmehr Zeit für neue Spieler, neue Experimente. Auf links mit einer überraschend klaren Ansage: Erik Durm wird nicht nur im Prestigeduell gegen die Gauchos in der Startelf stehen: „Er wird in den kommenden Monaten eine wichtigere Rolle bei uns übernehmen“, kündigt der Bundestrainer an. Zu Löws Freude ist der Dortmunder in seinem Klub gerade gesetzt, weil der doppelte Team-Kollege/Konkurrent Marcel Schmelzer in der Vorbereitung verletzt war. Während der Bundestrainer gegenüber letzterem BVB-Spieler traditionell Vorbehalte hat („Wir können uns leider keinen Besseren schnitzen“), überzeugte Shooting-Star Durm den DFB-Trainer offenbar mit seinem Drive in der Offensive sowie der tollen Perspektive, mit 22 Jahren noch viel Entwicklungspotenzial zu besitzen.
Auch für die rechte Seite bringt der Bundestrainer mit einige Monaten Verspätung einen Dortmunder ins Gespräch: Kevin Großkreutz. „Er spielt die Position zwar jetzt nicht mehr beim BVB, aber er kann es.“ Vermutlich belohnt der Bundestrainer den Allrounder schon bald für sein tadelloses Verhalten bei der WM, als er sich klaglos in die Rolle des Ersatzmannes fügte. Außerdem auf dem Zettel: Antonio Rüdiger vom VfB Stuttgart, der auf seinen zweiten Länderspieleinsatz hofft. Beim 21-Jährigen gefällt Löw die Schnelligkeit und das Verhalten im Duell eins gegen eins. „Vielleicht kann er in die Position reinwachsen.“ In jedem Falle soll es wieder ein echter Außenverteidiger richten auf dem Weg zum EM-Finale in Paris im Jahr 2016.
Probe-Modus als Dauerzustand
Bei diesen überschaubaren Personalien soll es aber bei weitem nicht bleiben. Zu den bislang 72 Neulingen der Ära Löw werden in nächster Zeit sicher weitere hinzukommen. Schon beim vorletzten WM-Test gegen Polen, als die Bayern- und Dortmund-Spieler wegen des DFB-Pokalfinales fehlten, hatte der Bundestrainer schon einige Talente zumindest eingeladen, um Nationalelf-Luft zu schnuppern. Dieser Faden wird nun wieder aufgenommen. Löw betrachtet die kommenden Jahre im wahrsten Sinne des Wortes als Feldforschung. „Wir werden jetzt jedes Jahr ein Turnier haben: EM, Confed Cup, WM. Und von den Etablierten werden sicher immer mal wieder Spieler ausfallen. Dem müssen wir Rechnung tragen.“ Weil er es sich leisten kann, wird die Abwehr beim Weltmeister auf absehbare Zeit erst einmal wieder eine Großbaustelle.