Noch vor der WM-Revanche gegen Argentinien soll der neue Chef der Nationalmannschaft gekürt werden. In Frage kommen eigentlich nur vier Spieler.
Für Oliver Bierhoff ist es ein kleines Dilemma. Seit Jahren versucht der Manager der Nationalmannschaft auch bei Deutschlands Vorzeigeteam die flachen Hierarchien zu etablieren. Die Position des Kapitäns, die der frühere Stürmer auch selbst schon ausgefüllt hat, soll nicht mehr die Bedeutung haben wie in seligen Fritz-Walter-Tagen. „Eigentlich ist die Sache ja überbewertet, die Zeiten haben sich geändert“, sagt der 46-Jährige also bei der ersten Pressekonferenz vor der WM-Revanche gegen Argentinien in Düsseldorf und verweist pflichtschuldig darauf, dass heutzutage Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt werden. Doch an der Tatsache, dass die Nationalelf nach dem Rücktritt von Philipp Lahm einen neuen primus inter pares braucht, einen Ersten unter Gleichen, daran kommt auch der Verfechter moderner Management-Methoden nicht vorbei.
Also lässt sich Bierhoff exakt 50 Tage nach dem Titelgewinn bei der WM 2014 doch ein umfassendes Profil entlocken, über das der künftige Kapitän verfügen muss: „Eine große Persönlichkeit sollte er haben, ein Kommunikator sein, Konflikte in der Mannschaft erkennen können und dann eingreifen. Auch sollte er in der Lage sein, mit dem Bundestrainer über die gesamte sportliche Entwicklung zu diskutieren.“ Letzterer wird nun anhand dieser Anforderungen in Einzelgesprächen mit seinen Weltmeistern einen Kandidaten finden, und diesen bereits morgen der interessierten Öffentlichkeit präsentieren. Als Nachfolger in der illustren Ahnenreihe eines Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann, Michael Ballack oder zuletzt Lahm kommen ernsthaft aber nur vier Spieler in Frage.
Die naheliegende Lösung: Bastian Schweinsteiger
Welchen Wert Bastian Schweinsteiger als emotioneller Antreiber für die deutsche Nationalmannschaft hat, war im WM-Finale wunderbar zu sehen. Der Münchener gab alles, auch körperlich, um sein Team zum ersehnten Triumph zu treiben. Trotz etlicher Blessuren kämpfte sich der Mittelfeldspieler durch die Verlängerung. Schon in Rio hätte er einen formidablen Kapitän abgegeben. Bierhoff meint ganz sicher den Münchner, wenn er sagt: „Einige Spieler sind in Brasilien noch einmal gereift.“ Schweinsteiger bringt alles mit: Routine, Führungsqualitäten, den Willen, die anderen anzutreiben. Selbst als Integrator leistete er große Dienste, nahm Sorgenkind Kevin Großkreutz vom Rivalen BVB an die Hand, als dieser auf der Bank zu versauern drohte. Schweinsteigers große Manko: der Körper. Der 30 Jahre alte Münchner hätte schon weit über 108 Länderspiele auf dem Buckel haben müssen, doch immer wieder passte er wegen Blessuren. So auch nun bei der Revanche gegen Argentinien. Ein Kapitän auf der Bank oder sogar vorm Fernseher ist keine Lösung.
Die zukunftsträchtige Lösung: Manuel Neuer
Von den Einsätzen her und als Wink in die Zukunft wäre Manuel Neuer der bessere Kandidat. Der Münchner Torwart ist ja so gut wie immer dabei, und als Keeper hat der 27-Jährige noch etliche gute Jahre vor sich. Der zurzeit weltbeste Torwart ist unumstritten auf seiner Position, im Verein und in der Nationalmannschaft. Im DFB-Team gehört er schon länger zu den wichtigen Persönlichkeiten. In seinem letzten Jahr auf Schalke durfte er zudem schon mal als Kapitän üben, bei den Bayern und in der Nationalmannschaft gehört er zu den Spielern, die auch ohne Binde Verantwortung übernehmen. „Wenn der Trainer mir das zutraut, würde ich es machen“, sagte Neuer selbst beim Auftritt in Düsseldorf, wenige Stunden vorm öffentlichen Training vor 45.000 Fans.
Was Neuer allerdings fehlt, ist eine spezielle Aura: die Fähigkeit, auch nach außen diese prestigeträchtige Position zu vertreten. Sein Bayern-Kollege Lahm hat in dieser Hinsicht hohe Standards gesetzt. Der Außenverteidiger wusste sich in der Öffentlichkeit zu inszenieren, um meinungsstark die Sache Nationalmannschaft voranzutreiben. Er nahm auch Stellung zu Dingen abseits des Rasens, was sich der sendungsbewusste DFB durchaus wünscht. Neuer müsste hier den nächsten Schritt tun und ein wenig mehr aus sich heraus gehen. Weiteres Manko: Selbst der „elfte Feldspieler“ Manuel Neuer mit seiner ultra-offensiven Interpretation der Torwart-Rolle ist weit weg vom Geschehen. Ein echter Feldspieler kann im klassischen Sinne auf dem Rasen viel besser Einfluss nehmen, auf die Teamkollegen oder auch auf den Schiedsrichter in heiklen Situationen.
Die außergewöhnliche Lösung: Sami Khedira
Als Mittelfeldspieler ist Sami Khedira viel dichter dran am Geschehen. Der Star von Real Madrid wäre ebenso geeignet wie Schweinsteiger – und er ist noch einige Jahre jünger. Khedira würde für Kontinuität in der Kapitäns-Frage sorgen, der 27-Jährige könnte wie Lahm die DFB-Elf über einen längeren Zeitraum prägen, bis die nächste Generation übernimmt. Wie Lahm ist auch der frühere Stuttgarter meinungsstark und konfliktfreudig. Das hat er in Brasilien bewiesen, als er nach dem Beinahe-Desaster gegen Algerien kein Blatt vor den Mund nahm – obwohl er selbst nicht gespielt hatte. Das haben ihm einige Kollegen übelgenommen, aber der Weckruf war durchaus angebracht, wie sich zeigte.
Selbst vor einer Auseinandersetzung mit Platzhirsch Lahm schreckte Khedira nicht zurück. So mutig sind nicht viele in einer Nationalmannschaft, die nach außen manchmal etwas arg weichgespült daherkommt. Fraglich allerdings bleibt, ob sich Khedira gegen die starke Bayern-Hausmacht in der Nationalelf behaupten könnte. Auch die räumliche Distanz stört. Von Spanien aus bekommt der Madrid-Spieler einfach nicht alle Entwicklungen brandheiß mit – Internet hin oder her – und kann sich auch nicht immer zu Problemen äußern.
Die überraschende Lösung: Mats Hummels
Außenseiterkandidat ist Mats Hummels. Der Abwehrchef, der seit Beginn der neuen Saison auch bei seinem Klub Borussia Dortmund zum Kapitän aufgestiegen ist, hat wirklich alle Voraussetzungen für diese Position: Ausstrahlung, Intelligenz, eigene Vorstellungen. Sein Selbstbewusstsein könnte allerdings zum Problem werden, denn vielfach wird ihm dieses als Arroganz ausgelegt. Auch ist nicht sicher, ob die von Bierhoff geforderte Rolle als Kommunikator auch innerhalb des Nationalteams funktioniert. Zwar ist er spätestens seit seinem goldenen Tor im WM-Viertelfinale gegen Frankreich auch beim lange kritischen Bayern-Block anerkannt.
Ins engere Sichtfeld hat es der BVB-Star im Kollegenkreis aber offensichtlich immer noch nicht geschafft. „Wir haben viele Spieler, die Verantwortung übernehmen: Schweinsteiger, Khedira, meine Wenigkeit. Auch Thomas Müller ist noch zu nennen“, sagt etwa Deutschlands Nummer eins, Manuel Neuer, und überging bei seiner Aufzählung – ob bewusst oder unbewusst – den Dortmunder. Überdies ist fraglich, inwieweit der Bundestrainer seine Vorbehalte gegen den offensivlustigen Verteidiger überwunden hat, dessen riskante Spielweise lange nicht ins DFB-Konzept passte.