Großes Spiel, große Gesten: Nach Borussia Dortmunds Beinahe-Wunder gegen Real Madrid löst unbändiger Stolz den Frust über das Viertelfinal-Aus ab.
Als der Traum vom Fußballwunder endgültig zerplatzt war, zeigte sich Jürgen Klopp als größter Fan seiner Mannschaft. Immer wieder animierte er das ohnehin begeisterte Publikum im früheren Westfalenstadion, die Schwarz-Gelben auf dem Rasen zu feiern. Der Trainer von Borussia Dortmund stellte sich also vor die Südtribüne, aber mit dem Rücken zur Gelben Wand, und er klatschte seinen Jungs Beifall – genau wie die treuesten der Treuen hinter ihm. Klopp hatte allen Grund dazu: Beim 2:0-Sieg über den Weltklub Real Madrid bot seine Rumpftruppe eine Leistung der Extraklasse. Wieder mal hatte der BVB die Königlichen in der Champions League ganz nah am Rande des Scheiterns, obwohl die 0:3-Hypothek aus dem Viertelfinal-Hinspiel doch unüberwindlich groß schien.
Power und Leidenschaft in Dortmunds DNA
„Von einer Million Möglichkeiten auszuscheiden, war das die beste“, sagte Klopp nach dem erneut denkwürdigen Fußball-Abend in Westfalen und platzte fast vor Stolz. Nur ein Tor fehlte seinem Team für eine Verlängerung – schon das wäre nach der Vorgeschichte eine Sensation gewesen. Chancen dazu gab es. Vor allem durch Henrich Mchitarjan, der zum tragischen Helden avancierte. Der Armenier vergab schon in der ersten Hälfte eine Riesenmöglichkeit fahrlässig. Im zweiten Durchgang machte er dann scheinbar alles richtig, als er einen Traumpass von Marco Reus aufnahm, Real-Keeper Iker Casillas ausspielte – zum Entsetzen der feierbereiten Jubelgemeinde aber nur den Pfosten traf (69.). Als nur eine Minute später Dauerläufer Kevin Großkreutz mit einem Drehschuss an Spaniens Nationaltorhüter scheiterte, war die Luft raus bei den gebeutelten Dortmundern. Aber auch erst dann. Nach tollem Aufbäumen und leidenschaftlichem Kampf fehlte am Ende die Kraft, um Madrids Startruppe weiter einzuschnüren.
Großchancen vergeben Mchitarjan wird zum tragischen Helden
„Wir wollten heute was beweisen, und das haben wir auch geschafft mit unserer unglaublichen Leistung“, sagte Klopp. Mit dem Mute der Verzweiflung, aber nie kopflos, hatte seine Elf versucht, das Unglaubliche noch zu erreichen und dabei dem Topklub aus der spanischen Hauptstadt einen gehörigen Schrecken eingejagt. Und das mal wieder in ziemlich veränderter Besetzung. Doch an diesem Gala-Abend in Dortmund machte es überhaupt keinen Unterschied, dass sein Team im wenig erprobten 4-1-4-1 spielte; dass Edeljoker Oliver Kirch in seinem erst dritten Europapokal-Einsatz zum Stabilisator vor der Abwehr aufstieg; dass Milos Jojic ausgerechnet gegen Real sein Startelfdebüt feierte, weil Nuri Sahins Rückenschmerzen einen Einsatz nicht zuließen; dass Oldie Manuel Friedrich für Sokratis in die Viererkette aufrückte, weil der verlässliche Grieche nach Klopps Angaben dringend eine Pause brauchte. Die Widrigkeiten, die den BVB vom atemlosen Angriffsfußball abhalten, müssen vermutlich erst erfunden werden. Der FC Bayern mag das Sieger-Gen haben, der Borussia ist Power und Leidenschaft in die DNA eingeritzt. Mit großem Kampf machten die auf der Felge rollenden BVB-Spieler gegen Madrid mal wieder alle Defizite wett.
Reus-Doppelpack eröffnet alle Möglichkeiten
„Wir hätten eine der größten Sensationen der Fußballgeschichte schaffen können“, sagte Dortmunds Abwehrchef Mats Hummels nach der Partie ohne Übertreibung. Auch Ur-Borusse Großkreutz hatte gemischte Gefühle, als er mit der verpassten Chance haderte: „Wir werden sicher heute Nacht nicht gut schlafen können.“ Insgesamt überwog aber deutlich der Stolz beim Vorjahresfinalisten über das unglückliche, aber insgesamt verdiente Ausscheiden aus der Königsklasse. „Es war fantastisch, heute hier zu sein“, sagte BVB-Chef Hans-Joachim Watzke. Und: „Die Mannschaft hat eine wunderbare Mentalität.“
Dabei war es denkbar schlecht losgegangen beim Versuch, Real zum dritten Mal in Folge ein Bein zu stellen. Schon nach einer Viertelstunde hatten die Gäste aus Madrid einen Hand-Elfmeter bekommen, der wohl keiner war. Fabio Coentrao schoss aus nächster Nähe Lukasz Piszczek an, und obwohl der Rechtsverteidiger den Arm angelegt hatte, zeigte Schiedsrichter Damir Skomina aus Slowenien auf den Punkt. Doch Roman Weidenfeller blieb Sieger im Duell mit Angel di Maria. „Das war die Schlüsselszene des Spiels“, sagte Real-Trainer Carlo Ancelotti später und gab zu: „Danach haben meine Spieler es mit der Angst bekommen.“ Das lag vor allem daran, dass Nationalspieler Reus einen Sahnetag erwischte. Erst legte er sensationell für Mchitarjan auf (18.), fünf Minuten später besorgte er die Führung selbst: Nach Friedrichs langem Pass nutzte er die verunglückte Rückgabe von Real-Verteidiger Pepe und schoss zum 1:0 ein. Noch vor der Pause staubte der Offensivspieler zum 2:0 ab, nachdem Robert Lewandowski zuvor am Pfosten gescheitert war (37.). Eine weitere gute Möglichkeit durch Hummels‘ platzierten Kopfball vereitelte Reals früherer Stammkeeper Casillas, der bekanntlich nur noch bei Champions-League-Spielen das Vertrauen des Trainerteams besitzt.
Klopp: Die bessere Mannschaft ist weitergekommen
Erst im zweiten Durchgang fing sich das taumelnde Madrid, das ohne Superstar Cristiano Ronaldo angetreten war. Der Weltfußballer musste aufgrund seiner Knieverletzung eine Zwangspause einlegen und bibberte auf der Ersatzbank um seine Chance, im Halbfinale Lionel Messi als Rekordtorschützen hinter sich zu lassen. Noch liegt der Portugiese gleichauf mit seinem Dauerrivalen aus Barcelona, dem das Kunststück von 14 Toren in einer Saison auch schon mal gelang. Gareth Bale sorgte für ein erstes Highlight aus spanischer Sicht, doch wieder war Weidenfeller zur Stelle (55.). Als dem BVB am Ende die Kräfte schwanden, vergaben Karim Benzema (80.) und erneut Bale (90.) die vorzeitige Entscheidung.
Dazwischen allerdings lag noch einmal eine grandiose Phase des BVB, die Mchitarjan und Großkreutz einfach mit einem Treffer hätten krönen müssen. Der Trainer der Dortmunder wollte aber gerade das Versäumnis von Pechvogel Mchitarjan nicht zu hoch hängen und verwies vielmehr auf Defizite aus dem ersten Duell. „Wenn wir in Madrid ein Tor geschossen hätten, wären wir weiter.“ Trotz des überraschend engen Ausgangs hatte Klopp auch kein Problem damit, den Erfolg des Gegners anzuerkennen. „Ob die bessere Mannschaft weitergekommen ist? Ja, so ist der Wettbewerb“, sagte der 46-Jährige. „Heute waren wir besser, aber in Madrid war Real klar besser und hat ein Tor mehr geschossen.“
Geld, Renommee und ein besserer Lostopf
Trotzdem muss sich der BVB nicht grämen. Auch wenn es nicht wie in der traumhaften Vorsaison bis zum Finale langte, haben die Schwarz-Gelben erneut Vieles gelernt und Großes erreicht in der Königsklasse. Weder die Trainer-Sperre nach Klopps verbalem Aussetzer gleich zu Beginn der Gruppenphase in Neapel hat die Mannschaft stoppen können, noch das unfassbare Verletzungspech. Mehrfach stand Borussia mit dem Rücken zur Wand. Jedes Mal hat es sich aus der Klemme befreit. Es gibt wohl nicht viele Mannschaften in Europa, die Rückschläge so eindrucksvoll wegstecken. Dass Borussia die anspruchsvolle Vorrunde mit den weiteren Gegnern Arsenal London und Olympique Marseille sogar als Sieger abschloss, spricht für ihre Entschlossenheit, die zum Abschluss gegen Real noch einmal mehr als deutlich wurde.
Zum ersten Mal seit 16 Jahren ist der BVB in zwei Spielzeiten in Folgen bis unter die besten Acht Europas vorgedrungen. Und das mit Spielern wie Friedrich, der vor wenigen Monaten noch arbeitslos war; mit Marian Sarr, der als 18-Jähriger im Gruppenfinale in Marseille ein eindrucksvolles Profidebüt gab (!), oder nun mit Akteuren wie Jojic und Kirch, die erfolgreich in die Bresche springen. Für Borussia zahlt sich diese neue Konstanz nicht nur finanziell durch die Champions-League-Millionen aus. Der Klub untermauert auch den guten Ruf, den er sich mittlerweile auf dem Kontinent aufgebaut hat. Auch bei der Pressekonferenz nach dem Real-Spiel durfte sich Klopp von internationalen Journalisten mit Glückwünschen zu einer tollen Spielzeit in der Königsklasse umschmeicheln lassen. Außerdem wird der aktuelle Tabellenzweite der Bundesliga in der kommenden Saison, sollte die Qualifikation für die Champions League wie erwartet klappen, wohl erstmals seit Ewigkeiten wieder im Lostopf 2 liegen. Damit sinkt die Gefahr, erneut in eine Hammergruppe zu kommen.
Kreuzband-Patient Subotic fällt Hummels um den Hals
Alles in allem also gar nicht so schlecht für einen Klub, der vor neun Jahren fast klinisch tot war. Einer der vielen verletzten Spieler drückte die Gemütslage der Borussia nach dieser erneut eindrucksvollen, spannenden, aber auch wechselvollen Europapokal-Saison mit all ihren Höhen und Tiefen vielleicht am besten aus. Am Abend der großen BVB-Gesten fiel Neven Subotic im Kabinengang seinem Abwehrpartner Mats Hummels um den Hals und sagte ihm einfach: „Ich bin so stolz, ein Teil dieses Teams zu sein.“