Kein Sieger, aber viele Gewinner: Selten hat ein torloses Revierderby so viel Freude bei den Rivalen Borussia Dortmund und Schalke 04 verbreitet wie die 144. Ausgabe des Traditionsduells – auch weil die befürchtete Randale ausbleibt.
Am Ende waren alle irgendwie glücklich: Die Dortmunder Borussia holte nach einer klasse Leistung vor der Südtribüne den Schulterschluss mit ihren Fans nach, der zuletzt in der Champions League nach atmosphärischen Störungen noch recht halbherzig ausgefallen war; Schalkes Anhänger ließen Torhüter Ralf Fährmann hochleben, der mit Weltklasse-Paraden das Unentschieden rettete. Und die Polizei sowie vermutlich sämtliche Funktionäre bei beiden Klubs, der DFL und dem DFB dürften erleichtert durchgeatmet haben, dass die Spirale der Gewalt fürs Erste durchbrochen wurde beim wohl friedlichsten Revierderby seit Jahren. Selten hat ein 0:0 in der Bundesliga so viel Freude auf allen Seiten verbreitet wie die 144. Ausgabe von Schwarz-Gelb gegen Königsblau.
„Wenn es heute Nacht zwischen den Fans noch ruhig bleibt, pinnen wir uns das Spiel an die Wand. Genau so soll ein Derby sein“, sagte BVB-Trainer Jürgen Klopp, bevor er und sein Kontrahent Jens Keller froh gelaunt vom Podium der Presskonferenz verschwanden, als würden sich gerade zwei alte Skatkumpel auf den gemeinsamen Weg in die Kneipe machen. „Nur nächstes mal dann bitte mit Dortmunder Toren“, schob der Coach der Schwarz-Gelben immerhin noch hinterher. Die mangelhafte Chancenverwertung war aus seiner Sicht wirklich der einzige Schwachpunkt eines klasse Duells.
Klopps BVB spielte gegen den Revierrivalen groß auf und erinnerte phasenweise sogar an die Auftritte im ersten Viertel der Saison. Obwohl die Dortmunder ihre Heimbilanz nicht aufhübschen konnten und in dieser Spielzeit bei nun vier Pleiten und zwei Remis schon 16 Zähler im früheren Westfalenstadion liegen ließen, konnte Abwehrchef Mats Hummels unwidersprochen erklären: „Das war unser bestes Heimspiel seit Monaten.“ Nach zuletzt etlichen schwächeren Auftritten war beim Vizemeister in der Tat die Rückkehr der Spielkultur zu bewundern. Chance um Chance erarbeiteten sich die Hausherren, die von Henrich Mchitarjan und Marco Reus immer wieder eindrucksvoll nach vorne getrieben wurden.
Der BVB hat sich schon mal mehr über Chancenwucher geärgert
Die beiden Mittelfeldmotoren hatten auch die größten Möglichkeiten für den BVB. Sie vergeigten einige beinahe fahrlässig oder scheiterten an Schalkes überragendem Keeper. Nach gut einer halben Stunde scheiterte Mchitarjan mit einem Distanzschuss an Fährmann, in der 72. Minute brachte er das Kunststück fertig, nach feinem Doppelpass mit Kevin Großkreutz aus bester Lage am Tor vorbei zu treten. Reus donnerte erst einen Drehschuss am Schalker Gehäuse vorbei (39.) und fand quasi mit dem Pausenpfiff ebenfalls seinen Meister in Fährmann. Robert Lewandowski (6.), Kapitän Sebastian Kehl (16.) und noch einmal Reus (70.) vergaben weitere Chancen aus der Luft. „Wir haben die Bälle vorbei geköpft oder den Nebenmann übersehen“, bemängelte Klopp später und meinte mit dem zweiten Teil wohl Torjäger Lewandowski, der bei einem Bilderbuchkonter den freien Reus übersah, um sein Solo zum Weltklassetreffer aufzupeppen (68.).
Doch der BVB hat sich in dieser Saison schon wesentlich deutlicher über den eigenen Chancenwucher geärgert. „Wir sind heute in allen Statistiken vorne, außer bei den Fouls und den Toren“, sagte Teilzeit-Vulkan Klopp vergleichsweise milde. Die Fans dürfen sich ersatzweise mit diesen Zahlen trösten: „Die Nummer eins im Pott sind wir“, sang die Südtribüne trotz des Punkte-Verlustes selig, nachdem es in dieser Saison keine Niederlage von „Lüdenscheid-Nord“ gegen „Herne-West“ gab und auch Rang zwei knapp verteidigt wurde. Vor dem Rivalen zu stehen: Morgens beim Bäcker und den ganzen Tag über am Arbeitsplatz gehört dieses Gefühl immer noch zu den härtesten Währungen im fußballleidenschaftlich geteilten Revier. Dass durch den gleichzeitigen Sieg des alten und nun auch neuen Deutschen Meisters FC Bayern der Rückstand auf eben jene 25 Punkte anschwoll, die es aus BVB-Sicht nie mehr geben sollte, interessiert ja schon längst keinen mehr. Im Titelrennen hat die Liga kollektiv und auf lange Zeit die Weiße Flagge gehisst.
Kellers Rasselbande hält dem Druck stand
Auch die Schalker konnten fast nur Positives aus der glücklichen Punkte-Teilung ziehen. Mit 23 Zählern nach dem Jahreswechsel bleibt S04 die beste Rückrundenmannschaft in der Außer-die-Bayern-Liga. Jens Kellers Rasselbande hat die Dauer-Schwäche der Konkurrenz aus Leverkusen und Gladbach effizient ausgenutzt und sich auf Rang drei eingenistet. Nur einen Punkt hinter dem Rivalen Dortmund hält das ultrajunge Team – erneut waren sechs Spieler in der Startelf nur 22 Jahre alt oder weit jünger – klar Kurs auf die direkte Qualifikation für die Champions League. Für den ebenso wie der BVB von enormen Verletzungssorgen geplagten Klub eine hoch einzuschätzende Leistung. Im Lazarett-Duell mussten übrigens beide Mannschaften insgesamt sieben Stammspieler ersetzen.
„Die erste Halbzeit konnten wir noch ausgeglichen gestalten, am Ende fehlte die Kraft“, analysierte S04-Coach Keller korrekt und ehrlich. Immerhin kam auch seine Mannschaft zu drei Großchancen – durch Klaas-Jan Huntelaar, der aus fünf Metern übers Tor schoss (5.), Roman Neustädter, der sträflich frei zum Kopfball ansetzte (59.) und Kevin-Prince Boateng mit einem Distanzkracher (78.). So mussten sich die Königsblauen bei ihrem Torhüter bedanken, dass sie mit der wertvollen Nullnummer davon kamen. „Auf der Linie gibt es keinen Besseren“, sagte Teamkollege Julian Draxler nach der Partie und auch sein Trainer zog den Hut: „Ralf hat heute wieder überragend gehalten.“ Ein weiteres Sonderlob gab es für seine beiden jungen Innenverteidiger: „Wie Joel Matip und Kaan Ayhan dem Dortmunder Druck standgehalten haben, war beeindruckend.“ Der 19-jährigen Ayhan absolvierte erst seinen dritten Startelfeinsatz als Profi.
Die befürchtete Randale-Revanche bleibt aus
Und zu guter Letzt waren die Fans und der Fußball die großen Gewinner. Abgesehen von wenigen Widerwärtigkeiten vor Anpfiff blieb es relativ ruhig: Schwachköpfe hatten vorm Stadion sechs mit Rasierklingen präparierte Anti-Schalke-Aufkleber verbreitet, diese waren aber zum Glück entdeckt worden. Einige Werbebanden auf der Nordtribüne mussten dran glauben. Auf den Rängen der Gelben Wand prangten einige hässliche Plakate, die dümmsten wurden aber schnell wieder eingerollt. Ein einziger Böller wurde im Stadion gezündet bei diesem Derby auf Bewährung, und dieser auf Schalker Seite auch erst nach Abpfiff.
Nach den Pyro-Attacken im Hinspiel in Gelsenkirchen verzichteten die Anhänger im Gästeblock glücklicherweise auf die befürchtete Revanche und blieben vorbildlich zurückhaltend. Nach Mitternacht meldete die Polizei, die mit 3000 Ordnungshütern die beiden Fanlager strikt trennte, dass auch die Abreise weitgehend friedlich verlaufen war. Am gesamten Abend gab es lediglich zwei Festnahmen. „Ohne Theater und Randale – das war heute eine tolle Stimmung hier im Stadion“, sagte Schalke-Trainer Jens Keller und hatte vermutlich alle Fußballfreunde hinter sich mit dieser Meinung.