Katastrophale Abwehrfehler und ein offensiver Offenbarungseid: Der BVB verabschiedet sich aus seinem grandiosen Jahr 2013 mit einem Anflug von Krise.
Auf der Pressekonferenz im früheren Westfalenstadion geriet der Trainer ins Schwärmen: „Wahnsinn, ich bin sehr stolz auf meine Mannschaft. Der Sieg ist die Krönung für eine großartige Hinrunde.“ Allerdings war es Jos Luhukay, der Coach des Aufsteigers Hertha BSC, der übers ganze Gesicht strahlte und am liebsten auf der Stelle ein Best-of seines Teams bei Youtube angeschaut hätte. Sein Gegenüber Jürgen Klopp dagegen, der mit Borussia Dortmund vor wenigen Monaten noch im Finale der Champions League stand und kürzlich wieder ins Achtelfinale der Königsklasse einzog, schaute, als würde er Alu-Folie kauen. „Was gut angefangen hat, ist beschissen zu Ende gegangen“, ätzte der BVB-Trainer angesichts der 1:2-Pleite im letzten Hinrundenspiel der Saison 2013/14. Seine Jungs sorgten drei Tage vor Weihnachten für die unpassendste Bescherung eines ansonsten herausragenden sportlichen Jahres. „So haben wir uns das nicht vorgestellt.“
Der Horror-Rang sieben ist plötzlich ganz nah
Etwas unvermittelt ist die Krise über Westfalen hereingebrochen. Doch der Blick auf die Zahlen verdeutlicht: Das brutale Ende der schwarz-gelben Herrlichkeit hat sich schon länger angedeutet: Die Niederlage gegen Hertha war die dritte Heimpleite in Folge. Das gab es unter Klopp in Dortmund noch nie, und in der jüngeren Geschichte des Revierklubs zuletzt vor 14 Jahren, als der BVB mit Bernd Krauss und später dem Tandem Udo Lattek/Matthias Sammer gegen den Abstieg kämpfte. Null Punkte und 1:6 Tore lautet aktuell die niederschmetternde Bilanz aus den jüngsten drei Auftritten vor eigenem Publikum. Es war zudem die fünfte Pleite gegen ein Team aus dem oberen Tabellendrittel – der Vizemeister mit dem ungeahnten Hang zur spielerischen Kernschmelze ist unter den Topmannschaften inzwischen ein willkommener Punktelieferant.
Der FC Bayern ist zwölf Punkte enteilt und hat sogar noch eine Partie in der Hinterhand, während die Spieler der Münchner in Marokko fleißig die Pokalsammlung erweitern und sich über die vermeintliche Konkurrenz in Deutschland schlapp lachen. Die Chance ist riesengroß, das auch Ende dieser Saison um die 25 Punkte zwischen dem alten und ziemlich sicher auch neuen Deutschen Meister sowie dem Herausforderer stehen. Dabei hatten die BVB-Stars vor der Saison als oberstes Ziel explizit ausgegeben, genau diese Art der erneuten Demütigung zu verhindern. Schlimmer noch für die Borussen: Es wackelt der Champions-League-Platz für die kommende Spielzeit, denn nach nur vier von 18 möglichen Punkten aus den jüngsten sechs Spielen droht Dortmund ins Mittelmaß abzurutschen. Der Horror-Rang sieben, der im Normalfall nicht mal als Trittbrett für die Europa League reicht, ist nur vier Zähler weg.
Die Abwehr leistet sich schwere Fehler
Bei der fünften Liga-Pleite schon in der Hinrunde – auch das ein Novum für die bislang so erfolgreiche Verbindung Klopp-BVB – waren es katastrophale individuelle Fehler, die das schwarz-gelbe Drama in Gang setzten. Abwehrchef Sokratis scheiterte mit einem unnötigen Seitenwechsel parallel zur Mittellinie und setzte Erik Durm am anderen Ende des Feldes dermaßen unter Druck, dass nach der verunglückten Ballannahme des Außenverteidigers der Ausgleich der Gäste durch Ramos in der 23. Minute förmlich in der Luft lag. Marian Sarrs eklatanter Aussetzer gegen Sami Allagui vorm zweiten Tor der Berliner (45.) war schlicht zum Heulen. Zuvor hatte der bedauernswerte Youngster eine gute Partie gegen die Hertha gespielt. Der Innenverteidiger, der ja nur wegen des enormen Verletzungspechs in der Bundesliga anstatt in der 3. Liga aushilft, leistete enorm viel fürs Dortmunder Aufbauspiel und wurde immer wieder von seinen Kollegen gesucht und angespielt.
Doch genau da liegt zurzeit die Krux im Dortmunder Spiel: Vom Mittelfeld, dem früheren Prachtstück des BVB-Vollgasfußballs, gehen kaum noch zündende Ideen aus. Unter dem Druck eines Rückstandes schon gar nicht. In der Schaltzentrale herrscht zurzeit mitunter Mut- und Ratlosigkeit, sonst würde der Ball wohl nicht ständig zu einem 18-Jährigen Innenverteidiger namens Sarr abgeschoben, der gerade erst seinen dritten Profieinsatz über die Bühne bringt. Im ersten Durchgang schickte Sebastian Kehl immerhin gekonnt Marco Reus auf die Reise zur frühen 1:0-Führung (7.). Aber nach einer weiteren Chance durch Robert Lewandowski nur fünf Minuten später schlief das BVB-Spiel komplett ein. „Uns fehlt der Killerinstinkt“, schimpfte Nuri Sahin später. „Wir haben irgendwann mit dem Fußballspielen aufgehört“, sagte Kapitän Kehl. Und Trainer Klopp beklagte: „Wir haben den Fuß zu früh vom Gas genommen.“ Um im Bild zu bleiben: Reus und Co. haben den BVB in eine viel zu kleine Parkposition manövriert, in die sie zwar rein, aber nicht mehr heraus kamen.
Aber das Problem liegt weiter vorne
Das muss man erst mal schaffen mit diesem BVB-Flitzer, der doch eigentlich weder Rückspiegel noch Rückwärtsgang hat. Von Henrich Mchitarjan kamen erneut so gut wie keine wertvollen Impulse, auch Reus war nach seinem frühen Highlight ein Totalausfall. Kehl und Sahin machten ihre Sache defensiv ordentlich, aber mit der Offensive waren sie – wie so oft in jüngster Zeit – meist überfordert. Stürmer Lewandowski litt mal wieder darunter, zu sehr auf sich alleine gestellt zu sein. Kein Wunder, dass der Pole ständig auf andere Positionen ausweicht, um sich selbst die Bälle zu holen. Seit nunmehr sechs Partien hat der Torjäger nicht mehr aus dem Spiel heraus in der Bundesliga getroffen.
Mal ganz abgesehen davon, dass die freche Hertha ihre Sache auch sehr gut machte – Angriffe über die Seiten gab es bei der Borussia kaum. Nur ganz selten fand (und findet) ein Dortmunder den Weg bis zur Grundlinie, um die Abwehr von hinten auszuhebeln. Das Dilemma bei Ecken gehört längst zur Folklore der Westfalen – gegen Berlin brachten fünf dieser Standards keinerlei Gefahr.
Die Statistik – ein Muster ohne Wert
Nur ein nennenswerter Angriff gelang der Borussia im zweiten Durchgang, als es so dringend darum ging, mit einem Positiverlebnis aus der Saison zu gehen. Joker Jonas Hofmanns Schuss von der Strafraumkante war die einzige Herausforderung für den Bundesliga-Debütanten Marius Gersbeck, der den verletzten Hertha-Stammkeeper Thomas Kraft vertrat. In der restlichen Zeit passierte – nichts! Dortmund kämpfte und rannte sogar noch mehr als sonst: Insgesamt 128 Kilometer spulten die Schwarz-Gelben ab – Saisonrekord! Allein Mchitarjan und Kevin Großkreutz schafften jeweils mehr als 13 Kilometer.
Aber all das geschah völlig uninspiriert und kaum zielführend. Satte 68 Prozent Ballbesitz – ebenfalls ein Muster ohne Wert. Dass die frühere Zaubertruppe in den letzten zehn Minuten schließlich mit der Angriffsvariante Brechstange scheitern würde, war abzusehen. „Das war für Berlin nicht so schwierig zu verteidigen“, fasste BVB-Trainer Klopp die unterirdische zweite Halbzeit seiner Mannschaft zusammen. Erstmals seit Langem schien auch der Chefübungsleiter enttäuscht über die Reaktion seiner Mannschaft. Sportdirektor Michael Zorc wurde in der Mixed Zone sogar noch deutlicher: “Ich bin nach langer, langer Zeit erstmals nicht einverstanden, mit der Art und Weise, wie wir aufgetreten sind.”
Größere Sorgen als nur Verletzungen
Denn all das, was den BVB in den vergangenen dreieinhalb Jahren auszeichnete, scheint plötzlich weg zu sein. Die absolute Gier; das Umschaltspiel; die Offensivgewalt; der unbarmherzige Zug zum gegnerischen Tor; die unglaubliche Pressing-Power, unter der die Kontrahenten sonst reihenweise zerbrachen. Schon gegen Wolfsburg und Leverkusen, selbst beim Arbeitssieg in Mainz hatte sich das angedeutet. Zwischenzeitlicher Chancenwucher gegen Gegner wie Marseille oder Hoffenheim haben den Blick für die wahren Probleme womöglich stark vernebelt. In jedem Fall: Selten hat die Borussia eine Winterpause so dringend herbeigesehnt und gebraucht.
„Wir müssen über Vieles nachdenken“, kündigte Klopp unmittelbar nach Spielschluss vielsagend an. Aber ob in den gerade mal fünf Wochen bis zum Start der Rückrunde auch die strukturellen Probleme der Dortmunder Mannschaft behoben werden können, die weit über personelle Verletzungssorgen hinausgehen? Das ist eine der wirklich spannendsten Fragen einer Bundesliga, die an der Spitze nur noch bayrische Dauersieger-Langeweile zu bieten hat.