Der Allrounder schwingt sich bei Dortmunds Drama in Marseille zum Helden auf und erstickt aufkommende Selbstzweifel und Komplexe bei Schwarz-Gelb im Keim.
Gut eine Stunde war das Drama in Marseille Geschichte, da stand Matchwinner Kevin Großkreutz noch immer auf der EM-Baustelle Stade Velodrome und berichtete in der Mixed Zone mit leuchtenden Augen vom Spott seiner Teamkollegen. „Ich habe fast 5000 Nachrichten auf dem Handy, irgendwann haben mir die Jungs gesagt: Leg das Ding endlich weg.“ Ausgerechnet der als Torjäger eher unauffällige Allrounder hatte drei Minuten vor Ende der regulären Spielzeit den 2:1-Siegtreffer bei Olympique Marseille geschossen, nachdem all die Hochbegabten in Schwarz-Gelb gleich reihenweise aus bester Lage gescheiterte waren. Damit bugsierte Großkreutz seine echte Liebe BVB nicht nur in ins Achtelfinale der Champions League, sondern bewahrte den wankenden Königsklassen-Finalisten der Vorsaison auch vor quälenden Selbstzweifeln.
„Zur Europa-League-Auslosung wäre ich nicht hingeflogen. Das hätte ich nicht verarbeiten können bis Montag“, gestand BVB-Chef Hans-Joachim „Aki“ Watzke in den Katakomben der Arena unumwunden: Ein Remis und der daraus folgende Abstieg in den ungeliebten kleineren Wettbewerb wäre für ihn eine Nummer zu hart gewesen. Nicht, dass die Klub-Verantwortlichen die Möglichkeit des Scheiterns in der Eliteklasse nicht bedacht hätten – ganz im Gegenteil: Der Katastrophenfall war vermutlich allzu präsent bei der Borussia, die in den letzten Wochen so unglaubliches Verletzungspech hatte, und bei der jüngst trotz aller personellen Defensivsorgen vor allem die gefeierte Offensive einige Male kollabiert war – durch Chancenwucher oder auch ungewohntes strukturelles Versagen im Spielaufbau.
Genussfußball ausgeschlossen
„Aki war gestern schon total nervös und hat jeden mit Blicken gestraft, der zu locker drauf war“, berichtete Trainer Jürgen Klopp auf der Pressekonferenz nach dem Spiel. Das drohende Aus in der Königsklasse vor Augen; schon wieder zehn Punkte Rückstand in der Bundesliga auf den Branchenführer FC Bayern: die gesammelten BVB-Komplexe der jüngeren Vergangenheit strahlten bis ans Mittelmeer aus. „Die Nerven waren angespannt“, gab Klopp zu, der gerade bei der FIFA als einer von drei Kandidaten zur Wahl als Trainer des Jahres steht. Umso bemerkenswerter, dass seine Mannschaft mit einer Energieleistung noch in beinahe letzter Minute den Kopf aus der Schlinge zog. „Wir sind solange drangeblieben, bis der Ball drin war“, sagte Klopp aber eher erleichtert als triumphierend. Und ein wenig entschuldigend über den Auftritt seiner Vollgaskicker: „Eine solche Situation lässt lockeren Genussfußball nicht zu.“
Dabei war alles für den BVB gelaufen beim entscheidenden Auftritt in Marseille. Schon nach vier Minuten hatte Robert Lewandowski in Weltklasse-Manier die erhoffte frühe Führung für die Westfalen erzielt, die mit einem Sieg das Weiterkommen in der eigenen Hand hatten. Souleymane Diawaras Abseitstor zum 1:1 nur zehn Minuten später schien nur ein kleiner Rückschlag zu sein, weil die Gastgeber noch vor der Pause einen ihrer Besten durch Platzverweis verloren: Dimitri Payet sah schon in der 34. Minute Gelb-Rot, nachdem er mit einer Schwalbe im Duell gegen Nuri Sahin einen Elfmeter schinden wollte. Mit einem Mann in Überzahl und mehr als einer Halbzeit zur Verfügung sollte doch wohl ein Tor gelingen gegen das punkt- und chancenlose Gruppenschlusslicht Olympique.
Zwischenstand aus Neapel lähmt den BVB
Und in der Tat: Im Minutentakt erarbeitete sich die Borussia nach dem Wechsel Großchance um Großchance. Doch dem oft überhastet und viel zu ungenau spielenden Henrich Mchitarjan misslangen bei tollen Kontersituationen die einfachsten Zuspiele (46., 51.), Jakub Blaszczykowskis Kopfball kratzte OM-Keeper Steve Mandanda von der Linie (57.), der ebenfalls fahrig wirkende Marco Reus scheitere erst am Pfosten (58.) und brachte später das Kunststück fertig, den Ball aus fünf Metern über das Tor zu schießen (69.). Als dann zwischendurch auch noch Lewandowski einen Katastrophen-Rückpass von Diawara nur ans Außennetz setzte anstatt ins leere Tor, dämmerte es auch den knapp 3000 stimmgewaltigen BVB-Fans im nur halbfertigen Stadion für die EM 2016, dass es einer dieser Tage sein könnte, an dem der Fußball unbarmherzig, ungerecht und brutal ist.
„Keine Frage: Wer so viele Chancen auslässt, ist schon härter bestraft worden als wir“, sagte Klopp. Auch wenn alle BVB-Akteure später pflichtschuldig antworteten, stets an den Erfolg geglaubt und nie, nie, niemals gezweifelt zu haben – nachdem in der 72. Minute die Führung des Gruppenkonkurrenten SSC Neapel gegen Arsenal London im Stadion angezeigt wurde, die das BVB-Aus bedeutet hätte, ging fast gar nichts mehr im Spiel des Bundesligisten. „Natürlich haben wir den Zwischenstand mitbekommen. Die Anzeigetafel ist ja riesengroß“, gab Reus den Knick im Spiel offen zu. Das Positivste beim angeschlagenen Dortmunder Offensivstar an diesem Abend war, dass er der Winterpause wieder 90 Minuten näher gekommen ist.
Großkreutz nimmt Tuchfühlung auf
So wie Reus fährt ja das gesamte Team auf der Felge Richtung Ende der Hinrunde. Nuri Sahin hatte sich trotz Teilriss des Außenbandes schwer bandagiert durch die für den Klub so bedeutende Partie gequält, weil nicht nur im defensiven Mittelfeld Alternativen fehlen. Eine außergewöhnliche Willensleistung, mit der er beispielhaft für alle anderen Dortmunder voran ging. „Nuri hat gezeigt, wie wichtig er für die Mannschaft ist“, verteilte Klopp ein Extralob an seinen Musterschüler der Meistersaison 2010/2011. Außerdem hatte in der personell ausgedünnten Innenverteidigung völlig überraschend Marian Sarr sein Debüt gefeiert – nicht nur in der Champions League, sondern vielmehr als Profifußballer (!). Mit der Erfahrung von lediglich 924 Minuten als Drittliga-Spieler ging der erst 18-Jährige die Herkules-Aufgabe auf allergrößter Bühne an – und machte seine Sache super. „Er hat keinen wichtigen Zweikampf verloren“, lobte Klopp seinen neuesten Shooting-Star – und auch bisschen den eigenen Mut, in solch einem wichtigen Spiel ein solches Wagnis einzugehen.
Der Mut wurde schließlich belohnt, weil Großkreutz‘ entscheidender Torschuss von der Strafraumkante in der 87. Minute so wunderbar missriet. „Ich wollte draufknallen, bin weggerutscht und irgendwie geht der Ball dann rein. Was danach kam, kann man nicht beschreiben.“ Völlig enthemmt führte der Matchwinner sein Team in die Fankurve und ging auf Tuchfühlung mit den Treuesten der Treuen. So sehr, dass Dortmunds spielender Oberfan im Publikum sogar einige Kumpels erkannte.
Ob der nächste Gegner für den überraschend zum Sieger der Gruppe F aufgestiegenen BVB im Achtelfinale nun AC Mailand, Zenit St. Petersburg, Olympiakos Piräus, Manchester City oder Galatasaray Istanbul heißen wird, war zu diesem Zeitpunkt allen herzlich egal. Hauptsache, es geht irgendwie weiter in der Königsklasse, die der BVB und sein Anhang in nur zwei Jahren so unglaublich lieb gewonnen haben.