Sorgenkind, Elfmeterversager, Löws schlapper Leader: Was war nicht alles zu lesen über Bastian Schweinsteiger vor Beginn der EM 2012, ja selbst noch unmittelbar vor dem Prestigeduell der Nationalmannschaft gegen Holland. Aber so geht es im Fußball: Neunzig Minuten reichen, damit sich die Fußballwelt um 180 Grad dreht, und so schlüpft Deutschlands Mittelfeldass nach dem 2:1-Sieg über den Erzrivalen plötzlich wieder in die Heldenrolle. Mit einer bärenstarken Leistung erinnerte Schweinsteiger an die Leistungen, die ihn bei der WM 2010 in Südafrika fast zum wertvollsten Spieler des Turniers gemacht hatten.
Schon die Statistik ist deutlich: Beide Treffer durch Mario Gomez bereitete er mit Traumpässen vor. Schweinsteigers erfolgreiches Wechselspiel mit Sami Khedira im defensiven Mittelfeld bildete im zweiten Gruppenspiel den Grundstein des Erfolges.
Neue, alte Freiheiten
Weil ihm Real-Star Khedira den Rücken freihielt, hatte Schweinsteiger alle Optionen im Spiel nach vorne: “Gegen Portugal war ich mehr in der Defensive gebunden. Nun haben sich mehr Chancen für die Offensive geboten, die habe ich genutzt”, sagte Schweinsteiger über seine neuen, alten Freiheiten im taktischen Konzept. Der persönliche Neuanfang, den sich Schweinsteiger vom Turnier so sehr erhoffte: Er könnte doch noch Wirklichkeit werden. Nur die Frage der Fitness hängt wie eine dunkle Wolke über dem Auftritt des 27-Jährigen. “Ich habe immer noch Schmerzen”, gab Schweinsteiger am Tag danach freimütig zu.
Vom Helden zum Elfmeterversager und zurück
Im Glutofen von Charkow waren aber alle Zweifel wie weggespült. Kein Gedanke mehr an die vielleicht schwierigste Bundesliga-Saison seiner Karriere, in der er sich nach einem Schlüsselbeinbruch und einem Außenbandanriss gleich zwei Mal mühsam zurück kämpfen musste. Kein Gedanke an die Champions League, in der er im Halbfinale erst zum Helden, im Endspiel aber zum tragischen Elfmeterversager wurde. Selbst ein zufälliges Treffen mit Chelsea-Eigner Roman Abramowitsch, dem er artig zum Finalsieg gratulierte, brachte keine bösen Erinnerungen hoch. Um mit Schweinsteigers eigenen Worten zu sprechen: Gegen Holland hatte er rechtzeitig “seine Eier wiedergefunden”, so wie zuletzt in der magischen Königsklassen-Nacht in Madrid. Und zumindest für einen Abend hatte er keinen Gedanke übrig für den Bluterguss in der Wade, der ihn vor Turnierstart sogar als Wackelkandidaten erscheinen ließ. “Für ein Spiel kann man den inneren Schweinehund überwinden”, sagte Schweinsteiger nebulös und nährte so die Zweifel an hundertprozentiger Fitness.
Löw und die Untertreibung des Abends
Aber “Basti ist ein Kämpfer”, wie dessen FC-Bayern-Kollege Manuel Neuer lobte, und so waren gegen Holland keine Einschränkungen bei Schweinsteiger erkennbar. Mit einem Top-Auftritt widerlegte der agile Lenker die Kritiker, die ihn nicht als Chef, sondern wie Kapitän Philipp Lahm beizeiten allenfalls als “Chefchen” sehen: Mehr Dominanz als im Duell mit den Regie-Größen Wesley Snijder, Rafael van der Vaart und deren potenten Adjutanten geht aber nicht. “Schweinsteiger wird von Spiel zu Spiel besser und zeigt Präsenz”, lobte Bundestrainer den Chefstrategen – das war wohl die Untertreibung des Abends.
Schweinsteiger war immer anspielbar und behielt die grünen Quadratmeter vor und neben sich im Auge wie ein Quarterback beim Football: stets auf der Suche nach der ersten, zweiten oder notfalls auch der drittbesten Anspielstation. Nur so konnte er gleich doppelt den perfekten Pass auf Gomez spielen. Für das deutsche Spiel war das ein Glücksfall, zumal Mesut Özil auch im zweiten Auftritt weit hinter den Erwartungen zurückblieb und als kreativer Ideengeber über weite Strecken ausfiel.
“Wir haben gestanden wie eine Wand”
Aber damit war Schweinsteigers Aufgabe längst nicht erfüllt. Im Rückwärtsgang erfüllte er die lästige Pflicht ebenso prächtig, auch weil er auch physisch wieder mit seinen Pfunden wucherte und eine starke Zweikampfquote hinlegte. “Er ist körperlich stark und gewinnt viele Zweikämpfe,” erkannte der Bundestrainer an. Gemeinsam mit dem ebenfalls guten Khedira ließ Schweinsteiger kaum einen holländischen Angriff bis zur Abwehr durch. “Wir haben gestanden wie eine Wand”, fand Schweinsteiger. Kein Wunder, dass die Elftal mit zunehmender Spieldauer immer öfter mit Schüssen aus großer Distanz versuchte, das Bollwerk zu überwinden: Das war Verzweiflung pur bei der großen Fußballnation, auch der Gegentreffer resultierte aus einem Weitschuss, der zum Glück für die Holländer durch die Beine von Holger Badstuber ging. Hilfreich war auch, dass die deutsche Nationalmannschaft seit der WM 2010 einen Entwicklungssprung gemacht hat: “Es tut gut, sich mittlerweile auch im Ballbesitz mal ausruhen zu können und den Gegner laufen zu lassen”, sagte Schweinsteiger. Vor nicht allzu langer Zeit war es die DFB-Elf, die beim Spiel Hase und Igel stets das Nachsehen hatte.
Es spricht für Schweinsteiger, dass er die aktuellen Lobhudeleien an sich abprallen lässt und diese lieber an die Mannschaft weitergibt. Lieber bricht er eine Lanze für seinen alten Buddy Lukas Podolski, unterstützt Mario Gomez oder macht selbst Gegner Holland Hoffnung. So lobte er Podolski für dessen Defensivarbeit, die vielen Beobachtern verborgen blieben. Über die tolle Ballannahme des vermeintlichen Grobmotorikers Gomez vorm ersten Treffer witzelte er: “Ich konnte mich gar nicht richtig freuen, weil ich so geschockt war. Wir müssen aufpassen, dass Mario nicht nach Brasilien auswandert.” Und seinem früheren Teamkollegen Mark van Bommel versprach er noch auf dem Rasen von Charkow Schützenhilfe. “Ich habe im gesagt, dass wir gegen Dänemark gewinnen. Dann haben es die Holländer selbst in der Hand, ins Viertelfinale zu kommen”
Aus Danzig berichtet Patrick Brandenburg , 14.06.2012