Beim mühsamen Arbeitssieg über Hannover 96 hakt es gewaltig im Dortmunder Angriff. Drei Tage vorm Showdown in der Königsklasse gegen den FC Arsenal geht anstelle der Offensivkünstler diesmal ein Abwehrspieler mit bestem Beispiel voran.
Verschwörungstheoretiker entwickeln ein enormes Talent, auch noch die letzten Millisekunden im großen Zeitenlauf der Welt für sich umzudeuten. Sollten diese gleichzeitig Freunde des griechischen Fußballs sein, lohnt sich zum 9. Spieltag der Bundesliga der Blick auf folgende Variante: Borussia Dortmund, mit 22 Treffern die formidabelste Angriffsformation Deutschlands, hat sich den mühsamen 1:0-Arbeitssieg über Hannover 96 eigens zurechtgelegt, um endlich und verdientermaßen einen unbesungenen Helden ins Rampenlicht zu stellen: die peloponnesische Wand namens Sokratis.
Total zufrieden – ehrlich!
Der griechische Nationalverteidiger räumte die Angriffe der Niedersachsen ab, dass es nur so eine Freude war. Angesichts seiner Zweikampfstärke, gepaart mit klassisch-humorloser Vorstopper-Mentalität, fühlten sich ältere Fans der Borussia an Zeiten erinnert, als noch ehrliche Grätschen oder Befreiungsschläge bis zum Rombergpark die Südtribüne zum Beben brachten, nicht Kurzpassspiel plus Vollgasfußball. Gerade weil es im Vorwärtsgang des BVB so eklatant hakte; gerade weil deutlich weniger Torschüsse heraussprangen als bei den Gala-Auftritten gegen Hamburg und Freiburg; gerade weil nur mickrige zwei Torchancen zustande kamen – gerade deswegen war Abräumer Sokratis einer der Garanten dafür, dass die umkämpfte Partie gegen den Tabellensiebten nach der Pause nicht kippte. Das Kampfspiel war wie gemalt für ihn und seine Stärken.
„Ich bin total zufrieden“ – das hätte der 25-Jährige Abwehrjoker getrost nach der Partie sagen können. Aber da er außerhalb des Feldes ähnlich stoisch zu Werke geht wie auf dem Platz, sagte es sein Trainer stellvertretend. Nur, dass Jürgen Klopp die Gesamtbetrachtung der Partie im Auge hatte und schnell noch ein „ehrlich gesagt!“ hinterher schob, weil es so unglaublich klang. Denn natürlich hat die Dortmunder Führungsetage ganz andere Vorstellungen vom Auftritt ihrer Mannschaft – zumal im früheren Westfalenstadion. Trotzdem war die Aussage des Oberborussen, der während der Partie eben doch unzufrieden in der Coachingzone auf und ab wanderte, nur teilweise gekünstelt. Nach anderthalb Länderspiel-Wochen mit etlichen Nationalspielern auf Reisen und dem zuletzt so haarsträubenden Verletzungspech ließ sich nun mal nicht sonderlich viel einstudieren im BVB-Labor in Brackel.
Der perfekte Sparringspartner
Alleine die Tatsache, dass die Geschichte gegen Hannover mit einem knappen, aber um so wichtigeren Sieg gerade noch gut ging und Rang zwei hinter Branchenprimus München sicherte, ließ dem erleichterten Klopp einen ziemlich unerhörten Satz rausrutschen, der so viel über den aktuellen Zustand der Bundesliga aussagt: „Das war eine ganz wichtige Einheit für uns, um einige Ventile wieder aufzustoßen. Eine solche Einheit hätten wir unter der Woche schon gebraucht.“ Eine Einheit also! Auf die Spitze getrieben: Ein Liga-Spiel als Trainingsform für die wirklich wichtigen Dinge: um für den Showdown in der Champions League am kommenden Dienstag beim FC Arsenal gewappnet zu sein.
So gesehen war Hannover der perfekte Sparrings-Partner. Stark genug, um Reize zu setzen und Reflexe zu wecken. Aber wackelig genug, um sich selbst mit dem frühen Gegentor auf die Bretter zu schicken. Und nicht zielstrebig genug, um die ungewohnten Schwächen des BVB im Spielaufbau und im Gegenpressing für eigene Treffer auszunutzen. Bei Hiroki Sakais unbeholfenem Einsatz gegen Erik Durm, der schon nach vier Minuten zum Elfmetertor durch Marco Reus führte, „haben wir einen schwerwiegenden Fehler gemacht“, bedauerte 96-Trainer Mirko Slomka. „Und vorne fehlte der richtige Abschluss.“ Denn wenn Hannovers ersatzgeschwächtes Offensivkollektiv um Artur Sobiech doch mal an Sokratis oder am gleichfalls souveränen Neven Subotic vorbei kam, verhinderte fehlende Konzentration das Erfolgserlebnis für die Gäste – oder gleich zwei Mal der starke BVB-Keeper Roman Weidenfeller. Die Niedersachsen waren so nah dran am heiß ersehnten ersten Auswärtstor der Saison, wie sie es vorher wohl selbst nicht vermutet hätten.
Bewerbung für die Jürgen-Kohler-Gedächtnismedaille
Denn der heimstarke Vizemeister aus Dortmund hatte schwer zu kämpfen, vor allem mit sich selbst. In Sven Bender, Nuri Sahin und Marco Reus hatten rechtzeitig vorm London-Spiel gleich drei Akteure zurück in die Startelf gefunden, für die ein kompletter Wettkampf-Einsatz nach ihren jüngsten Verletzungen normalerweise zu früh kam. „Wir hatten nicht die Kraft für 90 Minuten“, gab auch Trainer Klopp unumwunden zu. So fehlte es zudem Polens Nationalstürmer Robert Lewandowski nach dem Misserfolg der verpassten WM-Qualifikation mental und körperlich an Frische. Henrikh Mchitarjan, unter der Woche beim sensationellen 2:2 Armeniens in Italien noch gefeierter Torschütze, lieferte gegen 96 vermutlich seine schlechteste Leistung im BVB-Dress ab. Trotzdem kämpften – zur Not würgten – sich auch diese Borussen durch eine Partie, die spätestens ab Beginn der zweiten Halbzeit zur reinen Charakterfrage wurde. Ab diesem Zeitpunkt ließ sich Dortmund das wilde Spiel der Gäste aufzwingen und vergab selbst dutzendweise Ecken, Freistöße oder viel versprechende Kontermöglichkeiten.
So fiel der Scheinwerfer ausnahmsweise auf den Spieler Papastathopoulos, genannt Sokratis, der kürzlich selbst noch mit einer lästigen Zerrung der Adduktoren zu kämpfen hatte, sich aber vor wenigen Tagen schon wieder für Hellas durchbiss. Beim BVB war er nur aufgrund der Sperre von Mats Hummels in die Startelf gerückt, erst zum dritten Mal in dieser Saison. Nun aber fungierte er als leuchtendes Beispiel für all die technisch Hochbegabten, die ihm Knoten in die Beine spielen könnten, und plötzlich verunsichert nach Führung suchten. Der frühere Bremer ging mit breiter Brust voran. Er gewann 76 Prozent seiner Zweikämpfe. Er zeigte viel Übersicht. Er spielte knochentrocken, als bewerbe er sich um die Jürgen-Kohler-Gedächtnis-Medaille – aber ab und zu sogar mit leichter Eleganz. In der Luft war er überhaupt nicht zu bezwingen. Sokratis gewann sämtliche Kopfballduelle. Am Dienstag im Emirates Stadion zu London wird der mit fast zehn Millionen Euro Ablöse wohl teuerste Abwehrjoker der Liga vermutlich trotzdem wieder seinen angestammten Platz auf der Bank einnehmen – so lässig und unaufgeregt, wie er auf dem grünen Rasen agiert. Stammspieler Hummels ist in der Königsklasse nicht gesperrt.
Die Tugenden der italienischen Verteidigerschule
Sein Klub BVB muss sich bei Arsenal dann allerdings gewaltig steigern, wenn er einen Zähler mitnehmen will oder sogar mehr. „Wir wissen, dass wir besser spielen können“, gibt sich Trainer Klopp optimistisch vor dem wohl schwersten Gang in der Champions-League-Gruppe F. Er hofft auf die Rückkehr der Gala-Borussia. Die Tugenden eines Sokratis, drei Spielzeiten über sozialisiert in der harten italienischen Verteidigerschule der Serie A, könnten dort aber auch nicht schaden.
Volle Zustimmung. Super Artikel.
Vielen Dank.
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